Wohin geht der Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern?

Schwerin (nordPR) – Beliebtes Urlaubsland und Ãœbernachtungszahlen auf Vor-Corona-Niveau, aber auch Fachkräftemangel und sinkende Akzeptanz bei Einheimischen – beim Talk im Funkhaus „Tourismus in MV – Wohin geht die Reise?“ im NDR Landesfunkhaus in Schwerin diskutierten gestern Abend Vertreter aus Gastgewerbe, Politik und Wissenschaft die drängendsten Probleme eines der Haupt-Wirtschaftszweige Mecklenburg-Vorpommerns diskutiert.
Gleich zu Beginn kam der Ückeritzer Bürgermeister Marco Biedenweg zu Wort. Er schilderte, dass die Ückeritzer auf einer Einwohnerversammlung vor nicht allzu langer Zeit über die Erschließung eines neuen Ferienhausgebiets am Ortsrand entscheiden sollten. Doch am Ende des Treffens wurde der Beschluss gefasst, dass es in puncto Tourismus so nicht weiter gehen könne und man keine zusätzlichen Betten mehr wolle.

Der Urlaubsort auf Usedom mit seinen rund 1.000 Einwohnern hat einen mehr als vier Kilometer langen Campingplatz. Zu DDR-Zeiten fanden dort 20.000 und heutzutage immerhin noch 4.000 bis 5.000 Gäste Platz. Den Menschen sei auf der Versammlung plötzlich klar geworden, dass man am Scheideweg stehe, so Biedenweg. „Weil wir den Tourismus entwickeln, aber alles, was ringsum passiert, schaffen wir nicht im gleichen Tempo zu entwickeln.“ Die Gemeinde habe ihre Kapazitätsgrenzen erreicht, so Biedenweg. Und der Bürgermeister zählte eine Reihe von Problemen auf, die auch in vielen anderen Urlaubsorten im Nordosten bekannt sein dürften: Infrastruktur, Verkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Fachkräftemangel, drohende Verdrängung, sinkende Akzeptanz bei den Einheimischen.

Diese Probleme kennt auch Tobias Woitendorf. Der Chef des Landestourismusverbands blickt mit seiner Branche einer „Riesen-Transformation“, wie er sagt, ins Auge. Nach Verbandsangaben leben rund 160.000 Menschen in Mecklenburg-Vorpommern direkt oder indirekt vom Tourismus, der jährlich rund sieben Milliarden Euro an Umsatz generiert. Der Zweig gilt als eine der tragenden Säulen der Wirtschaft im Nordosten. „Uns ist klar, der Tourismus ist etwas, das in diesem Land breit akzeptiert werden muss“, so Woitendorf. Deshalb habe die Branche neben den Gästen zuletzt auch vermehrt die Einheimischen in den Fokus genommen und mit einer Untersuchung deren Stimmungsbild untersucht. Ein Ergebnis: Die Akzeptanz bei den Einheimischen ist gesunken, das Image angekratzt, die Gründe vielfältig. „Wir müssen nicht nur die Gästen nach außen ansprechen, sondern gucken, dass möglichst viel regionale Wertschöpfung durch den Tourismus, dann werden die Menschen den Tourismus auch akzeptieren“, meint Woitendorf.

Der Ãœckeritzer Bürgermeister Biedenweg sieht in den Ergebnissen der aktuellen Umfrage eine „Quittung“ für die Versäumnisse der vergangenen Jahre. Auf Usedom, wo laut Umfrage 73 Prozent der Einheimischen sagen, dass es zu viel Wohnraum für Touristen gebe, sei die Akzeptanz-Delle besonders deutlich. Früher seien zwar noch mehr Urlaubsgäste gekommen, aber die Verkehrsanbindung insbesondere durch den öffentlichen Nahverkehr sei besser gewesen, erklärte Biedenweg.

Der Landrat von Vorpommern-Rügen, Stefan Kerth (nach seinem SPD-Austritt vor wenigen Tagen nun parteilos) brachte dann auch den Begriff des „Overtourism“ in die Diskussion ein. Wenn neben Problemen mit dem Verkehr und fehlendem Wohnraum sowohl für Einheimische als auch für Beschäftigte in der Branche auch noch neue touristische Großprojekte wie etwa in Pütnitz am Saaler Bodden oder auf Rügen in Planung seien, dann fühle sich mancher womöglich „erdrückt“ vom Tourismus. Als mögliche Lösungsansätze brachte der Landrat „sanftere“ Entwicklungsprojekte ins Gespräch, bei denen die Flächen nicht den Spekulanten überlassen werden, sondern den Gemeinden Möglichkeiten gegeben werden, das Heft des Handelns bei der Projektentwicklung selbst in der Hand zu behalten.

Ein weiteres großes Problem ist der Fachkräftemangel. Jörg Dahms, Regionalleiter der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) sprach von einem „Verdrängungswettbewerb“: „Nicht nur mit Wohnraum werden unsere Leute verdrängt, Geld verdrängt auch“, so der Gewerkschafter. Nach seinen Angaben würde jemand, der 45 Jahre lang in der Branche gearbeitet hat, mitunter weniger als 1.000 Euro Rente am Ende bekommen. Deshalb müsse dringend über eine gerechtere Verteilung geredet werden, aber die Arbeitgeber und der Branchenverband Dehoga blieben Vieles schuldig. Dahms warf dem Verband „Charakterlosigkeit“ vor.

Das wollte Dehoga-Chef Lars Schwarz so nicht stehen lassen. Schwarz verwies auf Erfolge der Branche. Diese habe schon kurz nach der Wende, als die Arbeitslosigkeit im Zuge des Umbruchs in vielen Regionen grassierte, sichere Arbeitsplätze und neue Perspektiven geschaffen. Zuletzt sei es trotz Corona gelungen, die Zahl der Auszubildenden in der Branche zu halten oder sogar zu steigern, so Schwarz. „Selbstverständlich gehören gute Rahmenbedingungen und eine gute Bezahlung dazu“, räumte der Dehoga-Chef ein. Trotz mancher Differenz komme es darauf an, dass alle Akteure nur zusammen den Tourismus im Land voranbringen könnten.

Nach Angaben von Woitendorf kommen heutzutage 83 Prozent der Urlaubsgäste mit dem Auto. „Das ist noch nicht die Verkehrswende im Tourismus“. Auch mit Blick auf die Anzahl der Ladesäulen und dem steigenden Anteil von E-Mobilität stehe das Land vor Herausforderungen. Der viele Verkehr führt in der Saison regelmäßig zu langen Staus vor allem vor und auf den Inseln. So schlummert gearde in den Bereichen Verkehr und Mobilität für den Tourismusforscher Prof. Volker Rundshagen von der Hochschule Stralsund noch viel Verbesserungspotenzial. „Die Bahnanbindung ist vollkommen anachronistisch in Mecklenburg-Vorpommern. Ich staune, wie sehr das vernachlässigt worden ist.“ Auch den Wohnraummangel kann sich der Wissenschaftler nicht recht erklären, denn Platz sei ja in dem dünn besiedelten Flächenland ja eigentlich mehr als genug da.

Für den Güstrower Hotelier Olav Paarmann ist es nach 30 Jahren des Wachstums der Branche im Land nun an der Zeit, das Tempo herauszunehmen und zu überlegen, „in welche Richtung wir gehen wollen“. Bei der Qualität etwa sei noch Luft nach oben. Ãœberhaupt seien viele Probleme schon vor 10 oder 15 Jahren erkannt worden. Ãœber das Thema Saisonverlängerung etwa sei schon lange viel geredet worden, aber am Ende nicht viel geschehen. „Jetzt müssen wir ins Tun kommen.“ Auch die Herausforderungen durch den demografischen Mangel seien mit Ansage gekommen. Genügend Instrumente gebe es. So gelte es etwa, Zuwanderer zu qualifizieren und zu integrieren, so dass sie fit für den Arbeitsmarkt werden, so Paarmann.

Bei all den Problemen fand die Tourismus-Expertin Constanze Köhler auch lobende Worte. „Mecklenburg-Vorpommern macht vor allem richtig, dass es mit einer tollen Kommunikation über Tourismus mehr Menschen zusammenbringt, um aufzuklären, sich auszutauschen und Ideen einzubringen.“ Deshalb biete die Zukunft „großartige Chancen“. Auch für Köhler stehen die Themen Infrastruktur und Mobilität im Vordergrund. Aber dabei dürfe das Wesentliche nicht vergessen werden: „Das Wichtigste für den Urlaubsgast ist immer noch der persönliche Kontakt und die Begegnung.“ Und dieser gelinge, wenn sich Einheimische und Urlauber gleichermaßen im Land wohlfühlten.

(nach einer Presse-Information des NDR Landesfunkhauses Schwerin)
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